Wer selbst im Glashaus sitzt ...
Gottesdienst am 01.07.2001

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
in den letzten Wochen habe ich mich intensiv mit dem Evangelium des Johannes beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, wie die einzelnen Begegnungen mit Jesus, seine Lehre, seine Worte an die Jünger miteinander verbunden sind und eine Tiefendimension entfalten, die unser Leben hier und heute berührt.

Wie eine Patchwork- Decke,Patchwork-Decke die aus einzelnen Stoffstücken scheinbar wirr zusammengesetzt ist, aber mit ein bisschen Abstand eine perfekte Musterung - fast dreidimensional - zeigt, so öffnet das Johannesevangelium den Blick über die einzelnen Geschichten, die Passion und die Auferstehung Jesu hin zu einem Gesamtkunstwerk, das weit in unser Leben hineinreicht.

Heute möchte ich mich mit Ihnen einer Jesusbegegnung nähern, bei der Sie vielleicht im Stillen sagen: "Na, die kenne ich schon, was soll die mir Neues sagen?" Doch wie bei der Patchwork- Decke entfaltet sich vor uns eine Tiefendimension, die wirklich Neues in unser Leben und unseren Alltag bringen kann.

Der Begegnung voraus ging die Auseinandersetzung Jesu mit den Leuten um ihn herum. Da war auf der einen Seite ein begeistertes Volk, das ihm nachlief und Wunder sehen wollte. Auf der anderen Seite formierten sich die Oberen der Gesellschaft, die in ihm eine Bedrohung ihrer Pfründe sahen, ja ihn für einen Gotteslästerer hielten. So sagten die Leute von Jesus: "Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser" und die Einflussreichen konterten: "Glaubt denn einer von den Oberen oder Pharisäern an ihn? Nur das Volk tut´s, das nichts vom Gesetz weiß". Zwischen diesen Polen stand Jesus. Sein Fürsprecher unter den Mächtigen war Nikodemus, ein Pharisäer, der heimlich viel von Jesus hielt. Er rief die Pharisäer zur Vernunft und erinnerte sie an die Gesetzeslage, dass ein Verhör vor der Verurteilung stattfinden musste. In diesem Umfeld nutzten die Einflussreichen des Volkes die Gelegenheit und führten eine Situation herbei, in der sie Jesu wahre Gesinnung prüfen wollten:

Johannes 8,2-11

Und frühmorgens kam Jesus wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten.
Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen:
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.
Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, Herr. 
Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Diese Begegnung sollte ein Verhör für Jesus werden. Es drängen sich verschiedene Aspekte auf:

  • Es geht um Jesus. Welche Position wird er im Konflikt ergreifen?
  • Es geht um die Frage, wer berechtigt ist zu urteilen und zu verurteilen.
  • Und es geht darum, wie wir alle zu Gott stehen, bei welcher der handelnden Personengruppen wir uns wiederfinden. 
Drei Personengruppen sind hier ineinander verwoben. 
  • Die Verurteiler. Sie wollten Jesus vorführen. Am konkreten Fall einer Ehebrecherin versuchten sie nicht nur der Frau selbst, sondern auch Jesus den Prozess zu machen. Unter einer Ehebrecherin verstand man damals eine Frau, die verheiratet war und mit einem anderen Mann ihre eigene Ehe gebrochen hatte. Ihr Ehemann war der Geschädigte, weil sie sein Besitz war. Laut dem Gesetz des Mose musste sie mit der Todesstrafe rechnen genauso wie ihr Liebhaber. Doch die Pharisäer wollten hier nur die Frau töten. Was war mit dem Liebhaber? Ist er vorher geflohen? War er unbekannt? Steckten die Einflussreichen womöglich mit ihm unter einer Decke? Und so wird deutlich, den strengen Gesetzeshütern ging es nur zum Teil um Moses Gesetz, denn mit dem Liebhaber nahmen sie es nicht so genau. Es ging ihnen vor allem um die Macht. Sie waren die legitimen Ausleger und Vollstrecker des Gesetzes und sie hatten auch die Kompetenz über Jesus zu urteilen.
  • Die Frau. Ihre Geschichte bleibt im Dunkeln. Offenbar gab es kein Interesse an ihren Beweggründen für den Ehebruch. Es liegt nahe zu fragen, ob sie Opfer oder Täterin war, ob sie heute auch moralisch verurteilt worden wäre, welche Rolle ihr Ehemann in dem Drama spielte. Doch diese Spekulationen führen kaum weiter. Hier wird uns keine biblische Lehre zum Thema Ehebruch vorgeführt, das eigentliche Thema dieser Begegnung liegt viel tiefer. Bemerkenswert erscheint lediglich, dass niemand für diese Frau eintrat oder kämpfte. Der Liebhaber ließ sie allein, der Ehemann ließ sie töten. Sie war völlig allein und damit eigentlich schon tot. Sie stand bereits außerhalb der Gemeinschaft, sie war auch von Gott durch Gesetzesbruch abgeschnitten. Die Steine waren eigentlich nicht mehr nötig um sie umzubringen.
  • Jesus. Er war das Opfer von Intrigen der Pharisäer. So heißt es "das sagten sie aber, um ihn zu versuchen..." Doch er handelte nicht wie ein Opfer - passiv, in der Verteidigung. Er malte im Sand. Ich habe mir überlegt, in welchen Situationen ich im Sand male, auf dem Block kritzele, Ornamente auf ein Arbeitsblatt zeichne. Es sind Situationen, in denen ich nachdenke, angespannt bin, eine Auszeit brauche, um wieder zu mir zu kommen. Vielleicht - und das ist eine von vielen möglichen Deutungen - schrieb Jesus im Sand, um eine solche Auszeit zu schaffen. Ich kann mir vorstellen, dass Jesus die Verbindung zum Vater suchte, dass er nicht aus dem Bauch reagieren wollte, sondern dem Willen Gottes Raum gab. In den Sand zu schreiben, da sind sich die Ausleger dieser Bibelstelle einig, ist wie Luftholen, wie eine Atempause in einem Mordprozess: Herr, was soll ich tun? Jesus ist hier Vorbild für uns. Er nimmt die Herausforderung der Intrige an. Er flieht nicht vor der Auseinandersetzung. Aber er redet auch nicht gleich drauflos. Er sucht den Kontakt zu Gott, er wartet auf seine Weisung. Ich wünsche mir, dass mir das auch immer öfter gelingt. Und dass ich dann auch merke, was Gott von mir will, eine innere Gewissheit bekomme, wie ich mich in dem Konflikt zu verhalten habe. 
Jesus verkündet aus der Ruhe heraus das Urteil Gottes: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf die Frau." In dieses Gottesurteil ist alle Sünde dieser Welt eingezeichnet. Immer wenn ich mich von Gott entfernt habe und meine Haltung ein Nein gegen Gott ist, bin ich hier angesprochen. Jede und jeder außer Jesus selbst ist Sünder und Sünderin - bricht das Vertrauen, das Gott uns entgegenbringt, möchte sein und ihr Leben mit eigener Kraft durchziehen, ohne auf die Kraftquelle zu achten, die erfülltes Leben nur schenken kann. So sind wir hier in doppelter Weise angesprochen. Als Sünder und Sünderin, auf die andere Steine werfen könnten, aber auch als die, die selbst Steine werfen, obwohl sie im Glashaus sitzen.

Wieder malte Jesus im Sand. Betete er für die Leute, dass sie hören und verstehen? Das Wort Gottes wirkte allein, Jesus musste es nicht groß erklären, die Mächtigen mit bösen Blicken anfunkeln oder sie zu überzeugen versuchen. Jesus malte im Sand, er ließ den Vater an den Herzen der Menschen wirken, er nahm sich selbst zurück.

Seine Worte zeigten Wirkung. Die Szene veränderte sich dramatisch. Die Richter gingen weg und ließen ihre Steine zurück. Sie sind ertappt worden. Für uns hat dieser Umschwung noch tiefere Bedeutung. Für die Sünde, die Trennung von Gott, stirbt Jesus am Kreuz. Damit hat alle eigenmächtige Justiz im Namen Gottes ein Ende. Er nimmt die Tode der Sünder stellvertretend auf sich und spricht sie von der Trennung frei, holt sie zurück ins Leben, in ein Leben mit Gottvertrauen.

Die Frau war jetzt mit Jesus allein. Auch sie war wie die Männer mit ihren Steinen Sünderin. Jesus beschönigte ihren Ehebruch nicht. Er sagte nicht, dass alles halb so wild sei und irgendwie schon wieder in Ordnung komme. Er änderte nicht die Moral. Aber Jesus sprach diese Frau frei: "Geh hin und sündige hinfort nicht mehr!" Jesus gab der Frau eine neue Chance. Ihr ist vergeben worden und sie konnte neu anfangen. Sie brauchte nicht mehr dem Liebhaber nachrennen, sie konnte nun Jesus nachfolgen. Er gab ihr Erfüllung, er erkannte den Wert der Frau, er wollte ihr Vertrauen.

Wie wird es weitergegangen sein? Eine spannende Frage. Schließlich ist die Frau außerhalb ihrer Familie und ihres gesellschaftlichen Umfelds gelandet. Es gab dort keinen Anknüpfungspunkt mehr für sie. Ihre neue Welt mag die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu geworden sein, ihre neue Familie dann nach Jesu Auferstehung die Gemeinde. Hier waren die Leute zusammen, die von Jesus einen Neuanfang geschenkt bekamen, sie konnten die Frau aufnehmen, sie wussten, wie es ist, von vorn zu beginnen, ohne voller Misstrauen die Sünden der Vergangenheit ständig vorgehalten zu bekommen. Hätte die Frau auch einen Ort in unserer Gemeinde gehabt? Ich glaube ja, denn wir alle haben hier Platz, weil Jesus uns vergibt und er allein den Neuanfang mit Gott schenkt, den wir uns auch als noch so Untadelige nicht selbst erarbeiten können.

Wo kommen wir in dieser Jesusbegegnung vor? Beide Positionen spielen sich oft im eigenen Herzen ab. 

Wir werden schuldig und bleiben hinter Gottes Anspruch auf unser ganzes Leben zurück. Wir sind lieblos, treuelos, kleingläubig, faul oder geizig. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Wir sitzen im gleichen Boot und stellen doch an den Pranger: schau mal der und schau mal die! Wir werfen Steine durch lieblose Rede, Klatsch, Abstempeln. Wir ersticken alle Hoffnung auf Umkehr im Keim, weil es praktischer ist, einen Sündenbock zu haben, der von der eigenen Schuld ablenkt.

Jesus zeigt uns eine andere Position auf. Er ermutigt uns, ihm zu vertrauen und nicht mit Steinen zu werfen. Er bietet Vergebung und Neuanfang an - für uns und für andere.

Doch heißt das nun, dass wir uns aus allen Fragen nach dem Willen Gottes heraushalten sollen, Unrecht nicht mehr beim Namen nennen können, weil wir selbst auch Unrecht tun? Es gibt doch immer wieder Verfehlung, die Gemeinschaft zerstört, bei der wir nicht einfach wegsehen können oder wo wir nicht einfach weggehen können. Wie also damit umgehen, wenn Unrecht unter uns auftaucht?

Ganz praktisch wird im Matthäusevangelium die sogenannte Gemeinderegel (Matthäus 18) ausgeführt. Wenn jemand in der Gemeinde gegen den Willen Gottes  verstößt, so wird ein Gespräch unter vier Augen stattfinden. Das Ziel ist, den Bruder oder die Schwester wieder auf den Weg mit Gott zu bringen. Geschieht keine Umkehr, sind mehr Leute zum Gespräch hinzuzuziehen, hilft das auch nicht, soll eine Gemeindeversammlung einberufen werden, die zum Neuanfang einladen soll. Erst wenn all dies nicht dazu geführt hat, dass die Person das Unrecht einsieht und davon ablässt, soll sie aus der Gemeinde ausgeschlossen werden. Aber sie soll behandelt werden wie ein Heide oder Zöllner, das heißt aber auch wie jemand, für den die Tür der Gemeinde immer offen steht und dem die ganze Liebe Gottes und der Gemeinde gilt. Als Zentrum der Gemeinderegel wird das Gebet in Gemeinschaft empfohlen. Und hier sehen wir auch wieder die Verbindung zu der Begegnung mit der Ehebrecherin. Jesus sagt Gottes Wort zu den Steinigern, er spricht mit Vollmacht Gottes. Wo Unrecht in der Gemeinschaft geschieht und wir darauf hinweisen müssen, brauchen wir Gottes Vollmacht, sonst ist es wie Steine Werfen und nicht wie eine Einladung zum Neuanfang.

Was ich aus dieser Jesusbegegnung mitnehme: Jesus möchte mir Gottes Liebe vor Augen führen. Er zeigt auf die Sünderin in mir, er zeigt auf den Pharisäer in mir. "Beide" werden "bekehrt". Ich bin radikal auf Gottes Vergebung angewiesen.
 

  • Jesus möchte mich vor eigenmächtigem Urteil bewahren, weil es mich von Gottes Willen entfernt. Gottes Wille ist, dass Männer und Frauen in seine Gemeinschaft gerufen werden. Ihr Ausschluss aus der Gemeinschaft ist immer erst die allerletzte Möglichkeit. Selbst wenn es so weit kommt, dann auf Hoffnung und nicht endgültig ein für allemal.
  • Jesus möchte mich vor Desinteresse bewahren. Wenn sich niemand der Frau angenommen hätte, wäre kein Neuanfang möglich gewesen. Wer begegnet mir in dieser Woche, der meinen Beistand braucht und nicht meine Verurteilung?
  • Jesus möchte mich vor Sünde bewahren. Ich mache mir wieder neu bewusst, dass das Leben mit Gott Konsequenzen hat und bedeutet, in der gleichen Weise mit meinen Mitmenschen umzugehen. "Sündige hinfort nicht mehr!" ist eine prägnante Aufforderung, mein Leben zu überdenken und die Kraft Gottes dafür in Anspruch zu nehmen.
Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.
Frei sind wir, da zu wohnen und zu gehen.
Frei sind wir, ja zu sagen oder nein.
Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.

Wir wollen Freiheit, um uns selbst zu finden,
Freiheit, aus der man etwas machen kann;
Freiheit, die auch noch offen ist für Träume,
wo Baum und Blume Wurzel schlagen kann.
Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.

Und dennoch sind da Mauern zwischen Menschen
und nur durch Gitter sehen wir uns an.
Unser versklavtes Ich ist ein Gefängnis
und ist gebaut aus Steinen unsrer Angst.
Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.

Herr, du bist Richter! Du nur kannst befreien,
wenn du uns freisprichst, dann ist Freiheit da.
Freiheit, sie gilt für Menschen, Völker, Rassen,
so weit wie deine Liebe uns ergreift.
Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.
Anders Frostenson

Cornelia Trick


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