Gottesdienst am 09.04.2006
Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
in einem Buch über
neue Jugendbewegungen las ich Sätze, die mich sehr nachdenklich machten:
"Die Bibel ist nicht nur ein Buch zum Nachlesen, sondern zum Nachleben.
Zu viele Storys und Verse darin sind noch ungelebt. Zu viele Gebete noch
unausgesprochen, zu viele Träume noch ungeträumt. Der Same des
Gebets fängt an, Früchte zu tragen: Menschen finden zu Jesus,
geben ihr Leben auf und folgen ihm nach."
Dass jemand sein Leben
aufgibt, um Jesus zu folgen, habe ich bisher selten erlebt. Doch wird dies
im Neuen Testament sehr deutlich gesagt. Gerade heute, am Palmsonntag,
erzählen wir uns die Geschichte von Jesu Einzug in Jerusalem. Alle
vier Evangelisten, die die Lebensgeschichte Jesu niederschrieben, berichten
von diesem Einzug. Jeder Evangelist setzt einen besonderen Schwerpunkt
in dieser Weggeschichte. Markus legt der Begebenheit einen Subtext zu Grunde,
der so lauten könnte: "Jesus macht deutlich, was Nachfolge bedeutet".
Markus 10,46-11,11
Und Jesus kam mit den Jüngern
nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger
und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus,
der Sohn des Timäus. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth
war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme
dich meiner! Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber
schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und Jesus blieb
stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen
zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich! Da warf er seinen Mantel von
sich, sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm:
Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm:
Rabbuni, dass ich sehend werde. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein
Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach
auf dem Wege.
Und als sie in die Nähe
von Jerusalem kamen, nach Betfage und Betanien an den Ölberg, sandte
er zwei seiner Jünger und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das
vor euch liegt. Und sobald ihr hineinkommt, werdet ihr ein Füllen
angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat; bindet es
los und führt es her! Und wenn jemand zu euch sagen wird: Warum tut
ihr das?, so sprecht: Der Herr bedarf seiner, und er sendet es alsbald
wieder her. Und sie gingen hin und fanden das Füllen angebunden an
einer Tür draußen am Weg und banden's los. Und einige, die dort
standen, sprachen zu ihnen: Was macht ihr da, dass ihr das Füllen
losbindet? Sie sagten aber zu ihnen, wie ihnen Jesus geboten hatte, und
die ließen's zu.
Und sie führten das
Füllen zu Jesus und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich
darauf. Und viele breiteten ihre Kleider auf den Weg, andere aber grüne
Zweige, die sie auf den Feldern abgehauen hatten. Und die vorangingen und
die nachfolgten, schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen
des Herrn! Gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt! Hosianna
in der Höhe! Und Jesus ging hinein nach Jerusalem in den Tempel, und
er besah ringsum alles, und spät am Abend ging er hinaus nach Betanien
mit den Zwölfen.
Der große Bogen der
Geschichte Gottes mit uns Menschen wird vor uns entfaltet. Jesus, der von
den Propheten vorhergesagte Messias, ist unterwegs zum Kreuz, wo er die
Sünde der Welt auf sich laden wird zur Erlösung der Menschheit.
Mitten auf dem Weg, den Gott mit seinem Sohn für uns Menschen geht,
tritt eine Verzögerung ein. Ein Einzelner unterbricht die Heilsgeschichte
durch sein Rufen: "Herr, erbarme dich, o Herr, hilf!" Dieser Einzelne ist
blind, doch seine Krankheit und die Heilung stehen nicht im Mittelpunkt
der Berichterstattung. Der Evangelist Markus erzählt diese Unterbrechung,
weil er an ihr Nachfolge aufzeigt.
-
Es beginnt mit dem Hilferuf.
"Ich habe Jesus nötig, ich kann mich selbst nicht retten, ich erkenne
an, dass nur Gott mir helfen kann." Hier am Weg von Jericho nach Jerusalem
findet kein Arzt-Hopping, kein Götter-Hopping statt, sondern
der Schrei nach Gott, der in seinem Sohn Jesus aus der Stadt Jericho herauskommt.
Es gibt Situationen in unserem Leben, da wissen wir, da wissen auch Menschen,
die mit Gott wenig Erfahrung haben, genau, wo die Adresse für ihren
Hilferuf ist. Es ist der Schrei aus der Tiefe, der sich zum Schöpfer
wendet wie in einem blitzartigen Erkennen, dass dieser Schöpfer sich
um sein Geschöpf kümmert. Nachfolge beginnt mit dem Schrei nach
Jesus, dem Gott, der sich als Mensch uns zugewandt hat. Nachfolge ist die
Konsequenz aus der tiefen Sehnsucht, in Kontakt mit Gott zu kommen und
im Kontakt mit ihm zu bleiben.
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Bartimäus läuft
nun nicht einfach Jesus hinterher, sondern Jesus wird auf ihn aufmerksam.
Jesus lässt sich auf seinem Weg ans Kreuz von ihm unterbrechen. Er
ruft Bartimäus zu sich. Dieses Geschehen erinnert an Jesu Gleichnis
vom Verlorenen Schaf (Lukas 15,4-7). Das Schaf hatte sich verirrt. Lang
lief es in der Erwartung, selbst wieder den richtigen Weg zu finden, bis
es dunkel wurde. Hilflos blöckte es: Wo ist die Herde? Wo ist mein
Hirte? Doch der Hirte hatte sich schon längst auf den Weg gemacht,
um dieses verloren gegangene Schaf zu retten. Jesus wartet auf mein Rufen.
Er sucht schon längst nach mir. Er ruft mich zu sich. Ich kann ihm
vertrauen, dass er meine Not ernst nimmt.
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Jesus lässt die Umstehenden
zu Vermittlern werden, die sein Rufen transportieren. So sagen die Leute
zu Bartimäus: Fürchte dich nicht vor Jesus, steh auf und setze
dich zu ihm hin in Bewegung, er ruft dich wirklich! Hier werden die Christen
und Christinnen angesprochen, die Jesus einsetzt, um neue Nachfolger und
Nachfolgerinnen zu gewinnen. Wir haben die Aufgabe, Jesu Rufen zu transportieren.
Zuerst müssen wir aufmerksam werden für Menschen, die am Rand
sitzen und "blind" sind. Das ist eine völlig andere Haltung, als einen
Rufenden zurückzudrängen, weil man selbst in der ersten Reihe
bei Jesus sitzen will. Die eigenen Anliegen, die wir Jesus vorlegen wollen,
müssen warten, jetzt geht es um den, der Jesus braucht, weil er noch
blind ist und den Weg zu Jesus nicht selbst findet. Sind wir sensibel für
die Probleme unserer Mitmenschen, die nicht hier sind, deren Leben sich
anders dreht als unseres? Helfen wir ihnen beim Aufstehen? Telefonieren
wir, bleiben wir dran? Umbeten wir diese Person, deren Rufen wir hören?
Eine Jugendliche im Jugendkreis hat wochenlang von einer Jugendlichen grüßen
lassen, die angeblich so großes Interesse am Jugendkreis hatte, nur
ständig irgendwie verhindert war zu kommen. Ich dachte mir insgeheim,
dass es mit dem Interesse ja nicht weit her sein kann und diese Person
sicher nie auftauchen wird. Innerlich belächelte ich die Jugendliche
mit ihrem Idealismus. Doch dann nach vielen Wochen tauchte das Mädchen
wirklich auf, und sie taute auf, sie wurde zu einer tragenden Säule
der Gruppe und hat andere mitgezogen. Mir ist diese Erfahrung eine Lehre,
die ich hoffentlich nicht so schnell vergesse. Jesus setzt mich ein, um
Menschen am Wegrand zu ermutigen, ihrer Sehnsucht nach Gott nachzugehen.
Und das ist keine Blitzaktion, sondern fordert Geduld, Gottvertrauen und
Liebe für diese Person.
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In dem zu Beginn zitierten
Motto einer Jugendbewegung steht, dass die Leute ihr altes Leben aufgeben.
Genau das macht uns Bartimäus vor. Er wirft seinen Mantel weg. Seine
ganze Lebensversicherung hängt an diesem Mantel. Mantel bedeutet in
seiner Zeit Zelt, Behausung. Ohne Mantel kann er keine Nacht im Freien
überleben. Doch Bartimäus gibt sein Haus dran, als er zu Jesus
läuft. Er braucht es offenbar nicht mehr. Denn als Geheilter sieht
er nun Jesus und geht mit ihm in die Passion und in die Osterfreude. Objektiv
betrachtet war Bartimäus vor seiner Heilung ein blinder Ausgestoßener
und ist als Nachfolger Jesu ein sehender Ausgestoßener geworden.
Doch subjektiv und mit den Augen Jesu betrachtet war er vorher allein und
von allen verlassen und ist nun gerettet, weil er mit Jesus auf der Seite
des Lebens steht. Er ist nicht länger blind, unfrei und zum Tode verurteilt,
sondern frei, für Jesus da zu sein. Wohin führt mich Jesu Gebetserhörung?
In den Alltag zurück ohne Veränderung, weil ich den Mantel des
alten Lebens angelassen habe? Oder in ein verändertes Leben, weil
ich meinen Mantel weggeworfen habe, um alles von Jesus zu erwarten? Weil
ich meine Abgründe nun Jesus hinlege, um sie heilen zu lassen, mich
selbst nicht mehr so wichtig nehme, weil ich einen Auftrag habe, mich um
die anderen zu kümmern, die um Hilfe schreien?
-
Der Einzug Jesu in Jerusalem
ist die konsequente Fortsetzung der Bartimäus-Erzählung.
Der
Esel wird geholt, der rote Faden der Heilsgeschichte ist wieder aufgenommen.
Wie der Prophet Sacharja (Sacharja 9,9) ankündigte, ließ Jesus
einen Esel holen, um auf dem Lasttier in Königswürde in die Stadt
zu reiten. Der Gottessohn kommt nicht hoch zu Ross, sondern als einer,
der mit dem Esel die Last der Welt trägt. Dieser König bringt
den wahren Frieden, der aus dem Frieden mit Gott wächst. Wer meint,
Nachfolger Jesu ohne Lastesel werden zu können, irrt. Er ist wie ein
Bartimäus, der seinen alten Mantel anbehält, die Erfahrungen
von Leid, Schuld, Versagen und Gottestrennung nicht von Jesus heilen lässt,
sondern sie wie einen Panzer um sich trägt. Die Mitziehenden legen
Kleider auf den Esel und auf den Weg. Sicher ist das eine Geste der Verehrung,
aber sie steht auch in Korrespondenz zum Mantel des Bartimäus. Menschen
legen ihre alten Kleider ab, sie werfen sie Jesus vor die Füße,
sie bitten ihn, dass er ihre Altlasten trägt, erträgt und wegnimmt,
dass sie frei werden, um Jesus zu folgen bis in den Tod am Kreuz. Was lege
ich an diesem Palmsonntag Jesus vor die Füße? Habe ich noch
solche alten Kleidungsstücke an mir, die mich hindern, Jesus zu folgen?
Wird es dann nicht höchste Zeit, mein altes Leben aufzugeben, mich
von Jesus befreien zu lassen?
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Die Leute rufen "Hosianna!
Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!" Sie zitieren Worte aus dem
118. Psalm. Übersetzt heißt Hosianna "O Herr, hilf!" Es ist
zuerst kein Jubelschrei, der Jesus entgegen schallt, sondern ein großer
Notruf. Wie Bartimäus wissen sie, dass Jesus helfen kann. Aus dem
Notruf wird dann allerdings ein Jubelruf, denn die Mitziehenden haben wie
Bartimäus Erfahrungen mit Jesus gemacht, sie bezeugen, dass Jesus
geholfen hat.
-
Wir kennen leider die Fortsetzung
des Palmsonntags, den Umschwung von Hosianna in "Kreuzige ihn!". Vielleicht
erkennen wir uns auch in diesem Umschwung wieder. Wir können in unserem
Vertrauen erschüttert werden. Manchmal bleibt die Hilfe, die wir uns
erhoffen aus, manchmal ist sie so anders, dass wir sie nicht erkennen können.
Manchmal merken wir nicht, wie der alte Mantel uns die Luft zum Atmen abdrückt,
wir vergessen ihn wegzuwerfen, wundern uns nur, dass wir Jesus nicht hinterher
kommen und immer atemloser werden. Jesus geht nach dem Einzug in den Tempel.
Er redet mit seinem Vater an dem Ort, wo Gott versprochen hat, nahe zu
sein. Und ich bin sicher, er redet dort im Tempel mit Gott über die
Mitziehenden, er bittet für sie, dass ihr Glaube, so wie sie ihn auf
der Straße zum Ausdruck brachten, nicht aufhört auch durch die
bitteren Stunden des Karfreitags hindurch. So wie Jesus Petrus versprochen
hat, für ihn zu beten, dass sein Glaube nicht aufhört (Lukas
22,32), so betet Jesus auch für uns, wenn wir in den Zerreißproben
unseres Glaubens stecken und das "Kreuzige ihn" näher ist als das
Hosianna. Auch wenn uns der Hilfeschrei im Hals stecken bleibt, hat der
gute Hirte sich schon längst aufgemacht, uns zu retten.
So lädt uns Markus ein,
den Palmsonntag zu nutzen, um über unsere Nachfolge neu nachzudenken.
Nachfolge bedeutet nach seiner Lesart:
-
Jesus von ganzem Herzen zuzutrauen,
dass er helfen kann.
-
Sich von ihm rufen lassen
und aufstehen.
-
Andere zum Aufstehen motivieren.
-
Alles, was von Jesus trennt
oder auf dem Weg mit Jesus behindert, ihm abzugeben.
-
Der Fürbitte Jesu trauen,
die durch Zeiten der Dunkelheit, Anfechtung und Blindheit hindurch trägt.
Cornelia
Trick
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