Lernen aus der Geschichte?
Gottesdienst am 22.10.2000

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
im Losungsbuch der Herrnhuter Brüdergemeinde las ich dieser Tage folgenden Merksatz von Meister Eckhart: Zirkel"Die ein gutes Leben beginnen wollen, die sollen es machen wie einer, der einen Kreis zieht. Hat er den Mittelpunkt des Kreises richtig angesetzt und steht der fest, so wird die Kreislinie gut. Das soll heißen: der Mensch lerne zuerst, dass sein Herz fest bleibe in Gott, so wird er auch beständig werden in seinen Werken."

Dieser von Meister Eckhart angesprochene Zirkel ist mir zu einem Bild für das Leben geworden. Der Mittelpunkt ist wichtig und oft haben wir ein Problem, weil wir von diesem Mittelpunkt abkommen oder weggerissen werden. So manövrieren wir uns ins Abseits und vieles bricht zusammen. So ist es auch für uns heute ein zentrales Thema, wie wir die Mitte bewahren können, wie wir unser Leben beständig in Gott gründen können.

In den letzten Wochen haben wir nach dem ökumenischen Bibelleseplan Jeremia in seinem Reden und Wirken begleitet. Er hat in einer sehr spannungsreichen Zeit gelebt, die Israeliten wollten sich aus den Klauen der Babylonier befreien und durch geschickte Bündnispolitik Freiheit erlangen. Jeremia als von Gott beauftragter Prophet hatte eine andere Weisung für sie. Er führte ihnen vor Augen, dass sie ihre Mitte, nämlich Gott verlassen hatten und nun die Babylonier als Konsequenz ihres Verhaltens in Kauf nehmen mussten. Gott wollte sie mit den Babyloniern nicht vernichten, aber ihnen einen Denkzettel verpassen, dass er nicht mit sich spaßen ließ. Und so kam es, wie es nicht unbedingt hätte kommen müssen, man schenkte Jeremia kein Gehör, sondern schloss sich mit den Ägyptern zusammen gegen die Babylonier. Die nahmen die Ägypter auch noch ein und so war nach einem vernichtenden Feldzug alles verloren, sogar der Tempel in Jerusalem zerstört. Ich habe mich bei der Lektüre immer wieder gefragt: Lernen wir daraus? Machen wir es anders als die Leute damals, weil wir es doch nun nach diesem eindrücklichen Beispiel besser wissen müssten? 
Die Klagelieder sind Jeremia zugesprochen worden, wohl deshalb, weil sie in seiner Zeit verfasst wurden und weil in ihnen ein Stück der Biografie Jeremias zum Ausdruck kommt. Gebete, die tiefste Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck bringen, werden immer wieder von der Gewissheit, dass Gott da ist, durchbrochen. Und so möchte ich aus dem Ende der Geschichte lernen, von der Erfahrung, dass Gott uns immer wieder trotz unserer Taubheit und Blindheit aufsucht.

Klagelieder 3,21-25
Ich will mich an etwas anderes erinnern, damit meine Hoffnung wiederkommt:
Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben. Sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende,
seine Liebe ist jeden Morgen neu und seine Treue unfassbar groß.
Ich sage: Der HERR ist mein ein und alles; darum setze ich meine Hoffnung auf ihn.
Der HERR ist gut zu denen, die nach ihm fragen, zu allen, die seine Nähe suchen.

Jeremia lebt uns in seinem Gebet vor, dass das Lernen aus der Geschichte mit Gott zu tun hat. Er stellt nach der Katastrophe keinen Maßnahmenkatalog zusammen, so etwa: Erziehung der Kinder zum Frieden und zum Gehorsam, sich Abfinden mit Machtverhältnissen, verstärkte Gottesdienste und Gebete um Neuanfang...

Jeremia wendet sich nach dem Zusammenbruch an Gott. Er erinnert sich als eine bewusste Entscheidung an Eigenschaften Gottes, die ihm Hoffnung geben. Diese Eigenschaften zeigen das eigentliche Herz Gottes, sie weisen hin auf die innersten Motive Gottes, wie er uns und unserer Welt begegnet. Und so nennt Jeremia hier Gottes Güte, Gottes Erbarmen, Gottes Liebe und Gottes Treue. Es sind starke Begriffe, die hier wie die vier Wände eines Hauses Sicherheit und Schutz gewähren angesichts einer völlig ungewissen Zukunft. Für uns heute zeichnen sie schon vor, was Gott uns mit Jesus schenken will: Dass wir in Jesus Gottes Güte, Erbarmen, Liebe und Treue erkennen können. Denn so ist Jesus zu uns (so nachzulesen im Gleichnis vom Verlorenen Schaf, Lukas 15,3-6). Jesus stellt sich auf die Seite des Lebens. Er erbarmt sich über Leute, die sich in ihren eigenen Wünschen, Beziehungen, Geschäften verstrickt haben. Er liebt gerade die, die nichts vorweisen können – anstößigerweise gerade die, die bei uns eher auf der Abschussliste stehen. Er ist treu und gibt uns nicht auf, auch wenn wir ihn immer wieder aus dem Mittelpunkt unseres Lebens verdrängen.

Eigentlich sollte man da denken, dass wir nichts lieber täten, als uns von Jesus finden, lieben und bewahren zu lassen. Muss doch ein ganz dolles Gefühl sein, als gestrauchelte Frau oder Mann gefunden, aufgefangen und nach Hause gebracht zu werden. Doch in Israel war das anders. Da war man offensichtlich nicht so scharf darauf, gefunden zu werden. Da wollte man lieber im eigenen Sumpf stecken bleiben und sich ein paar Blümchen drumrum pflanzen, damit es schöner dort aussah. Und wie ist es heute? Immer noch sucht Jesus uns, Sie und mich, unsere Nachbarin und Ihren Kollegen. Immer noch ist er unterwegs und freut sich, wenn jemand sein Angebot annehmen will. Aber im Großen und Ganzen hat Jesus Christus keine Relevanz mehr in unserem öffentlichen Leben. Auch bei der Diskussion um die Öffnung der Geschäfte an Sonntagen habe ich aus den offiziellen Verlautbarungen noch nie gehört, dass man diesen Tag für den Gottesdienst freihalten will, nicht nur für den gemütlichen Brunch im Familienkreis. In unserer Gesellschaft ist der Mittelpunkt nicht Gott und ist es wahrscheinlich auch nie gewesen.

Sind wir nun so ganz anders als unsere Nachbarn und Freunde, die nicht in die Kirche gehen? Es ist wohl gelogen, wenn wir von uns behaupten, wir sind ganz anders als das Volk Israel damals und als die Mehrheit heute. Wir haben auch unsere liebe Not, unseren Zirkel in der Mitte zu halten. Letzten Sonntag sprach ich mit einem Chorleiter eines Männerchores. Er erzählte, wie schwierig es wäre, die Leute in seinem Chor bei der Stange zu halten. Sie haben so viel zu tun und selten sind alle Stimmen in der Probe ausreichend besetzt. Er meinte, es sei früher anders gewesen. Und ich denke an unsere Gebetskreise, unsere Hauskreise, unser Bibelgespräch, die vertrauten kleinen Gruppen in der Gemeinde, wo wir uns auf die Mitte in unserem Leben einstimmen. Sind sie denn so gut besucht, wie man es erwarten könnte? Ist da ein echtes Bedürfnis, Güte, Erbarmen, Liebe und Treue für das eigene Leben neu zugesprochen zu bekommen?

Ich erlebe auch das andere. Dass jemand meint, er könne dieses Bedürfnis an andere delegieren. Also ich habe keine Zeit, in den Hauskreis zu kommen, aber ich finde es toll wenn Herr Schmitt und Frau Müller hingehen, dann können sie an meiner Stelle für die Mitte sorgen... Möge es viele Schmitts und Müllers geben, die diese Vertretung vor Gott übernehmen!

Vielleicht wollen wir ja wirklich aus der Geschichte lernen und nicht einfach so weitermachen wie bisher. Gottes Güte treibt zur Umkehr, es ist nicht der Peitschenhieb, der zur Umkehr bewegt. Doch wenn wir auf die Güte Gottes, die er ja auch mit Jeremia seinem Volk erweisen wollte, nicht reagieren, wird es uns wie dem Volk Israel ergehen. Wir sind dem Unheil ausgesetzt, das über uns zusammenbricht, uns die Lebensmitte raubt. Dann kommen vielleicht die Fragen: Warum hat Gott es soweit kommen lassen? Doch eigentlich haben wir uns selbst mal wieder ins Abseits manövriert. Aus der Geschichte lernen wir, wenn wir uns das zu Herzen nehmen, dass Leben mit Gott konsequent und entschieden heißt, ihm die Mitte einzuräumen. Das strahlt aus in alle Lebensbereiche und macht unsere Worte und Werke beständig und in Gott verankert, wie Meiser Eckart es ausdrückte.

Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen – und auch an einem Sonntag kann man lernen -, dann gibt uns das Klagelied Jeremias eine gute und hilfreiche Anleitung zur Umkehr. Ganz persönlich und seelsorgerlich will dieses Lied zu uns sprechen und uns mitnehmen in die Bewegung hin zu Gott. Da ist der erste bewusste Schritt weg von den persönlichen Katastrophen hin zur Hoffnung auf Gott. Es ist ein schwerer Schritt, weil er uns herausführt aus dem Selbstmitleid, aus dem Aalen in Selbstvorwürfen und Anschuldigungen. Es ist sehr schwer, den Hoffnungsschritt nach vorn zu gehen, wenn hinter einem eine zerbrochene Liebe liegt, ein enttäuschender Berufsweg, ein Grab eines nahen Menschen. Doch es ist ein notwendiger Schritt.

Ich erlebe es immer wieder, dass Gemeinschaft mit anderen Christen dabei sehr hilft. Denn wer kann sich schon am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Aber Leute, die unterstützen, begleiten, beten und auch deutliche Worte finden, helfen zu sagen: ich will nach vorn sehen. In den Hauskreisen haben wir Raum für solche Gespräche, in Seelsorgegemeinschaften, manchmal einfach am Telefon. Und so wird der Blick auf Gottes Güte ausgerichtet, der dafür gesorgt hat, dass wir überhaupt noch leben. 

Schauen wir in unsere Lebensgeschichte, dann werden wir diese Ereignisse entdecken, wo wir buchstäblich aus Todesgefahr gerettet wurden, wo das Auto vor unseren Füßen noch zum Stehen kam oder wir durch eine Operation gerettet wurden.

Auch sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende. Wo sind die schwachen Stellen, wo Sie Erbarmen nötig haben? Wo Sie sich im Gestrüpp verrannt haben und nicht mehr heraus kommen? Mag sein, es ist ein Ehekrieg, ein Händel mit den Eltern, mit den Kindern, im Geschäft. Probleme mit dem Älterwerden. Gottes Erbarmen ist kein Pauschalangebot und kein Allheilmittel wie Klosterfrau Melissengeist. Meine Oma nahm Klosterfrau Melissengeist für alles und gegen alles, sie rieb sich damit ein und schluckte das Wässerchen. Angeblich hat ihr das sehr gut getan. Aber Gottes Erbarmen gilt der speziellen Schwachstelle, wo wir es nötig haben. Wir brauchen diese Schwachstelle Gott nicht verheimlichen, er kennt sie und freut sich, wenn wir ihn genau da wirken lassen.

Gottes Liebe gilt jeden Morgen neu. Heute mag das vielen von uns leicht von den Lippen gehen, Sonntag ist frei und erst mal scheint der Alltag weit weg. Doch manche sind heute ganz besonders einsam, weil alle scheinbar glücklich in ihren Familien sind, manche haben jetzt schon Bauchschmerzen vor morgen und für manche ist alles so schwer, dass die Wochentage schon gar keinen Unterschied mehr machen. Gerade da sind wir gehalten, geliebt und wenigstens einer drückt uns einen Kuss auf die Wange und flüstert uns ins Ohr "ich bin da".

Gottes Treue ist unfassbar groß. Am Beispiel des Volkes Israel sehen wir, wie oft die Menschen Gott verlassen haben, er sie suchte und sie zu ihm umkehrten. Und auch heute ist das unsere Hoffnung angesichts der neuen Unruhen in Palästina, dass Gott seinem Volk treu ist.

Es ist eine Lernaufgabe, uns abzukehren von dem, was an Gottes Stelle in den Mittelpunkt unseres Lebens gerückt ist: Kinder, Beruf, Spaß, Erfolg. So werden wir frei, uns zu Gott zu wenden und ihn in die Mitte zu stellen – von dieser Mitte her zu leben. Im hebräischen Urtext heißt es wörtlich übersetzt "der Herr ist mein Teil". Das ist ganz wörtlich verstanden, denn Israel hatte nach der Zerstörung durch die Babylonier keinen Landbesitz mehr. Gott war alles, was noch zu ihnen gehörte, er war ihr Grundstück und ihre Lebensversicherung. Leute in Kriegsgebieten erleben das bis heute so. Sie müssen auf der Flucht alles zurücklassen, ihre Häuser werden geplündert und in Brand gesteckt. Wie gut, wenn sie um den lebendigen Gott in Jesus Christus wissen, der ihr ein und alles sein will.

Der Herr als Mitte unseres Lebens verändert uns. Die Konsequenzen möchte ich kurz anreißen.
Carola, kurz vor dem Schulabschluss, räumt Jesus jeden Tag eine ruhige Viertelstunde ein, in der sie in einem Tagebuch ihre Gedanken und Gebete notiert und auch die ganz konkreten Fragen formuliert: Wie soll es für mich weitergehen? Welcher Berufsweg ist für mich richtig? Ist meine Freundschaft in deinen Augen o.k.? Sie erzählt, dass sie in dieser Viertelstunde viel erlebt und ihr Jesus antwortet. Manchmal braucht es eine ganze Zeit, bis sie die Antwort versteht. Manchmal wartet sie auch tagelang. Aber sie spürt, dass ihr Tagebuch keine Einbahnstraße ist, sondern ein Medium zum Gespräch.

Herr Maier hat erfahren, dass Jesus ihn von seinen Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen befreit hat. Seine Ehe ist gescheitert und immer und immer wieder hat er die Schuld bei sich gesucht. Jesus hat ihm vergeben und damit ist der Rucksack ausgeleert. Für Herrn Maier ist es ein neues Gefühl, endlich in die Zukunft zu schauen ohne sich selbst zu zerfleischen.

Frau Schulz lernt loszulassen, weil Jesus alles ist, was für sie wichtig ist. Sie fing an mit ihren Finanzen, hielt sich an die biblische Vorgabe, 10% des Einkommens Gott zur Verfügung zu stellen. Sie merkte bald, wie sie das froh und gelassen werden ließ – denn Gott sorgte für sie. Frau Schulz erlebte es auch an ihrem Arbeitsplatz. Sie hatte lange Zeit große Angst, ihn zu verlieren und ein Nobody zu werden. Als Jesus immer mehr Zentrum ihres Lebens wurde, rückte ihre Position in der Firma ins zweite Glied. Sie fragte nun, entspricht dieser Arbeitsplatz meinem Leben mit Gott? Ja und nicht selten fragte sie sich nun, ob sie nicht noch mal ganz neu anfangen sollte in einem Beruf, wo sie ihrem Glauben mehr Gestalt geben könnte.

Lernen aus der Geschichte? Das ist wohl sehr nötig, denn Jesus Christus will Zentrum unseres Lebens werden und bleiben. Wenn er aus unserer Lebensmitte weggeschoben wird, dann sind wir den Mächten und Gewalten, die gegen Gott stehen, schutzlos ausgeliefert. Doch Jesus geht uns nach. Er möchte uns beschenken mit seiner Güte, seinem Erbarmen, seiner Liebe und seiner Treue. Jesus in unserer Mitte macht uns frei für einen neuen Anfang, wo wir seine Gegenwart in unsere Umgebung tragen können und sein Licht auch in den Dunkelheiten unseres Alltags und unserer Gesellschaft leuchten lassen können. Jesus in der Mitte lässt uns voller Kraft und Freude unser Leben gestalten, hier und jetzt bis in Ewigkeit.

Cornelia Trick


Home


Verantwortlich Dr. Ulrich Trick, Email: ulrich@trick-online.de
Internet-Adresse: http://www.predigt-online.de/prewo/prewo_lernen_aus_geschichte.htm