Gott ist die Liebe
Gottesdienst am 29.08.2010

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
von einer kleinen Schwefelbergwerkstadt auf Sizilien las ich, dass dort ein einsamer Bahnhof steht mit Bahnhofsgebäude, Bahnsteig und Signalanlage. Doch sind dort niemals Schienen verlegt worden. Nie ist ein Zug angekommen, nie einer abgefahren. Der Bahnhof war tot.

Wie ein toter Bahnhof können wir Menschen sein. Als Geschöpfe Gottes haben wir Ohren, um auf Gott zu hören. Wir haben Herzen, um Gottes Liebe zu empfangen. Wir haben Hände, um Gottes Liebe weiterzugeben. Aber die Verbindung zu Gott fehlt. Es führen keine Gleise vom Menschen zu Gott. Und auch die Beziehung zu den Nächsten ist gestört, die Gleise fehlen. Der Mensch wird einsam, bleibt ohne Nachschub und Austausch, geht sich selbst verloren. Die religiösen Bücher sind wie Kursbücher im toten Bahnhof. Die Kirchengliedschaft ist wie die Fahrkarte, die niemand braucht. Die Kraft Jesu kommt nie an, weil die Gleise fehlen.

Gott hat sich mit toten Bahnhöfen nicht abgefunden. Mit seinem Sohn Jesus baute er ein neues Schienennetz, das auch den entferntesten Bahnhof erreichen sollte. Auf den Schienen transportiert er bis heute seine Liebe direkt in die Herzen der Menschen.

1.Johannes 4,7-12

Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

Der erste Johannesbrief ist in schwerer Zeit geschrieben worden. Die jungen Hausgemeinden in der Tradition des Lieblingsjüngers haben eine Spaltung erlebt. Zwei Parteien haben sich gebildet, die beide für sich in Anspruch nehmen, das Johannesevangelium richtig auszulegen. Durch den 1.Johannesbrief können wir ein wenig rekonstruieren, warum sich zwei Flügel in der Gemeinde bildeten. Die einen sagten: Jesus ist als Sohn Gottes in die Welt gekommen, um uns durch Kreuz und Auferstehung zu erlösen. Wie er als Mensch war, was er sagte und tat, ist völlig unwichtig. Auch ist unwichtig, was Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu tun. Es kommt nicht auf ihre Taten an, sondern ob sie an Jesus glauben. Mit ihrem Glauben sind sie nämlich schon aus dem Bereich der Sünder befreit. Jetzt leben sie wie in einem anderen Land, da hat die Sünde keinen Zugriff mehr. Der 1.Johannesbrief wirft dieser Partei vor, Jesus nicht ernst zu nehmen. Sein Leben, Lehren und Handeln ist nicht nebensächlich, sondern als Vorbild wichtig. Was Jesus sagte, lehrte und tat, ist wichtige Richtschnur für das Leben seiner Nachfolger. Und auch seine Liebe gilt es zu leben. Indem die anderen sich von dem 1.Johannesbrief-Flügel trennen, verraten sie Jesu Liebe und geben sie preis, dass die Sünde sie noch im Griff hat. Der 1.Johannesbrief kämpft für die Einheit im Glauben und Handeln, in der Lehre und in der Liebe. Er wirft den anderen vor, dass sie ihr Bahnhofsgebäude nur scheinbar an die Schienen Gottes angeschlossen haben, aber die Container voller Liebe nutzlos im Gebäude verkommen lassen – ja, sie noch nicht einmal auspacken.

Wir sind heute nicht in dieser Situation. Wir lesen den Brief nicht als Rechtfertigung und Kampfschrift gegen Abtrünnige. Wir tauchen ein in die Wahrheit, dass wir nur leben können, wenn wir eingebunden sind in Gottes Schienennetz und unsererseits weder Sackbahnhof oder Rangierbahnhof, sondern Durchgangsbahnhof werden.

Gott ist Liebe …

Gott setzt der Briefschreiber Johannes mit Liebe gleich. Er meint damit nicht, dass Gott ein romantisches Gefühl ist wie ein Herzluftballon, der nach einer Weile die Luft verliert und schlapp in der Kurve hängt. Gott ist Liebe eher so, wie ich es gestern in einem zufälligen Gespräch mit einem Vater erlebte, der, auf die Einschulung seines Sohnes angesprochen, Minuten lang ausführte, wie seine Tochter die erste Woche in der Schule erlebt hatte, wie die Lehrer sich zu ihr verhielten und wie er sich freute, sie auf dem Schulhof von ferne zu beobachten. Erst zwei hartnäckige Anrufe hielten ihn davon ab, mir noch mehr zu erzählen. So begeistert wäre Gott, würde er auf uns angesprochen werden. Er ist voller Liebe zu seinen Geschöpfen, er hat das Beste für sie im Sinn. Er freut sich über jeden Entwicklungsschritt und behält uns im Auge. Wie sehr können wir uns vorstellen, dass der Vater 10 Jahre später verletzt wäre, wenn seine Tochter ihm abspricht, für sie Bedeutung zu haben. Wenn sie ihm vorwirft, er habe sich nie um sie gekümmert, er sei wohl gar nicht ihr richtiger Vater. Wie sehr wird es Gott jeden Tag schmerzen, dass wir Menschen ihm das genau vorwerfen.

Deshalb, um uns zu gewinnen, ließ er Jesus die Schienen neu zu uns legen. Er wollte uns wieder seine Liebe zukommen lassen. Er wollte uns spüren lassen, dass er seine Zusage: „Ich bin bei dir!“ ernst meinte.

Wer Gottes Liebe annimmt, die Gleise bis in sein Herz bauen lässt und die Container auspackt, der hat das beste Vorbeugemittel gegen die Sünde gefunden. Wer mit Jesus lebt und sich täglich in den unterschiedlichsten Situationen fragt: „Was würde Jesus tun?“, der oder die wird Jesus ähnlicher werden und bei ihm bleiben.

… verändert den Bahnhof

Wenn die Liebe ankommt, stapeln sich die Gütercontainer irgendwann im Bahnhof, der Eigenbedarf ist gedeckt, wohin mit dem Rest? Zurück zu Gott? Das wäre doch eine Beleidigung, wenn wir ihm seine Liebe zurückschicken. Er will sie nicht wiederhaben, sondern möchte, dass etwas damit geschieht. Der Vater aus meiner Begegnung gestern wollte nicht, dass seine Tochter ihm Tag und Nacht ihre Liebe versicherte, sondern dass sie etwas daraus macht, wächst, Neues lernt, sich ihren Aufgaben stellt. So ist Gottes Liebe dazu da, dass wir sie satt aufnehmen und etwas daraus machen, die Gleise Gottes weiterbauen, die Container weiterschicken. Der Bahnhof des Lebens soll kein Sackbahnhof sein, sondern ein Durchgangsbahnhof werden, an dem sich viele neue Gleise anschließen. GleiseDiese neuen Gleise werden zuerst zu den nächsten Menschen führen, zur Familie, den engen Freunden, aber eben auch zu den Brüdern und Schwestern Jesu in der eigenen Gemeinde. Wer würde schon Gleise legen, die als Ziel etwa London haben und sogar einen Tunnelbau einschließen. Nein, wer Liebe Gottes weitergeben will, kann das nicht direkt von hier nach Afrika tun, es braucht Zwischenstopps, Bewährungsstationen, bis die Liebe Afrika erreicht. Um diese Nächsten geht es im 1.Johannesbrief. Sie sollen die Liebe Gottes abbekommen. Wer die Liebe seinen Nächsten in der Gemeinde verweigert, so formuliert es der 1.Johannesbrief scharf, ist nicht von Gott beauftragt, sondern von seinem Widersacher.

… ermöglicht neue Gleise

Auf Befehl die Geschwister in der Gemeinde zu lieben, ist unmöglich. Da hinkt das Bild vom Gleisbau gewaltig. Die Gleise werden gebaut, egal ob das Ziel sympathisch ist oder nicht. Mit der Liebe ist es nicht so einfach. Reden wir von ihr als einem Gefühl, wird es ganz und gar unmöglich, sich gegen das Gefühl für die Liebe zu entscheiden. Doch Gott meint mit der Liebe zu den Geschwistern eine Haltung der Liebe, die Entscheidung ermöglicht. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich jemand sympathisch finde. Doch ich kann mich entscheiden, ob ich mich ihm oder ihr gegenüber misstrauisch, zornig, verbittert und abweisend verhalte, oder ob ich ihm oder ihr gegenüber freundlich, höflich, achtsam, gütig, offen und auch versöhnlich zeige. Meine Haltung äußert sich in meinem Verhalten. Und mein Verhalten spiegelt wieder, was ich selbst verinnerlicht habe. Ist Gottes Liebe wirklich in meinem Herzen angekommen und hat mich verwandelt? Oder verhält es sich eher so damit wie am Bahnhof Frankfurt-Stadion: Da fahren jede Menge ICEs vorbei, aber sie halten nicht am Bahnhof, sie laden dort nichts ab, sie nehmen nicht mit. Obwohl genug Gleise liegen, bleibt das Bahnhofsgebäude von den ICEs völlig unberührt. Ich fürchte, wir sind viel öfter ein Bahnhof Frankfurt-Stadion als wir es wahrhaben wollen. Die guten Worte Gottes fliegen an uns vorbei, aber nicht in unser Herz. Was können wir daran ändern? Der Halt eines ICEs am Bahnhof kostet Zeit. Ein- und Aussteigen, Ab- und Aufladen lässt sich nicht im Vorbeifahren. Schon ein bisschen mehr Zeit für das Aufnehmen von Gottes Liebe würde vielleicht einen großen Unterschied machen. In dieser Zeit sollten wir uns nicht schon wieder Gedanken um dies und das machen oder den verlorenen Minuten nachtrauern, die uns den ganzen Tag fehlen werden, sondern uns bewusst machen (lassen): Gott nimmt mich, wie ich bin, er steckt mich nicht in ein Umerziehungslager mit Zwang und Strafe. Gott will das Beste für mich. Gott stellt mich bewusst in die Gemeinschaft mit Menschen, die anders sind als ich. Er lässt mich mit und an ihnen wachsen und reifen. Dafür will ich Gott danken und mich an ihm freuen.

… Liebe geht weiter

Es ist nicht nötig, über gelingende Beziehungen in der Gemeinde nachzudenken. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir sie erleben dürfen. Praktisch wird die Liebe zu den Schwestern und Brüdern jedoch erst im Konfliktfall. 
Man hat unterschiedliche Ansichten zu bestimmten Themen, die die Bibel nicht so genau beschreibt. Man hat auch unterschiedliche Antworten auf die Frage, was Jesus tun würde. Man ist sich in die Quere gekommen, hat sich verletzt, beleidigt. Kränkende Geschichten hängen einem nach, die man nicht einfach vergessen kann. Man kennt sich über die Zeit „zu gut“. Die Vorerfahrungen machen taub für die Gegenwart – wie die verbrannte Zunge, die alles pelzig schmecken lässt, egal ob süß, sauer oder bitter.

Was hilft in diesen alltäglichen Situationen?
Das Gemeinsame Sehen. Manche Konflikte lassen sich durch Gespräch nicht ausräumen. Man tickt unterschiedlich, hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht und eine unterschiedliche Lebenssituation. Doch das muss nicht trennen, solange wir auf den gemeinsamen Bezugspunkt sehen und dadurch geometrisch gesprochen ein Dreieck bilden. Der Blick auf Jesus und seine Gemeinde ist das Verbindende, das uns zusammenhält und immer wieder zusammen bringt. Solange ich 100% davon ausgehen kann, dass der andere Jesus lieb hat und die Gemeinde liebt, werden wir einen Weg miteinander finden. Schwierig wird es da, wo andere Interessen im Hintergrund stehen. Wo es nicht um Jesus geht, wird das Dreieck unterbrochen, die Unterschiede rücken deutlich ans Licht. Doch mit Jesus wird es immer einen Weg geben, beieinander zu bleiben. Denn er gibt die Ziele aus, dass Schienen von Gott aus in unser persönliches Leben führen und von uns zu anderen weitergehen.

Was uns beieinander hält, sind die Gemeinsamkeiten, die wir viel stärker thematisieren sollten, statt uns an den Unterschieden zu laben. Und was uns zusammenschweißt, sind gemeinsame Glaubenserfahrungen: das gemeinsame Gebet, das gemeinsame Ringen um den Weg in die Zukunft ohne Tabus und Denkverbote, das gemeinsame Hören auf Gottes Weisung in der Stille. Zusammenwachsen können wir nur, indem wir uns Zeit lassen. Unsere gemeinsamen Beziehungen sollen ja Früchte tragen. Kein Apfelbaum wird einen Tag nach dem Pflanzen des Apfelkerns schon Äpfel hervorbringen. Das braucht Jahre. Warum nehmen wir uns nicht auch Zeit füreinander?

Die noch größere Herausforderung für die Liebe zueinander stellen Streit und Verletzungen dar. Jesus fordert uns auf, einander unbegrenzt oft zu vergeben. Was im Alltag fast übermenschlich ist. Wir können es nur, weil wir an Gottes Liebe angeschlossen sind und Vergebung am eigenen Leib erfahren. Auch wenn wir nicht mehr ein Bahnhof sind, der tot ist, so hat doch das Böse noch Macht über uns und bringt uns oft genug dazu, uns der Liebe Gottes zu verweigern und Gleise zu bauen, die ins Nichts führen. Jesus sagt uns zu, dass Gott uns vergibt, immer wieder neu. Und dass er uns weiter an seine Liebe anschließt. Das erwartet er auch von uns – auch im schwierigen Nahbereich der Gemeinde – auch trotz unserer Erfahrungen und der „pelzigen Zunge“. Auch das Vergeben ist eine Haltung und eine bewusste Entscheidung. Sie wächst im persönlichen Gebet, sie braucht das Gespräch und sie geschieht nicht von heute auf morgen. Wie beim Weitsprung ist für einen guten Sprung der Anlauf entscheidend. Je weiter und intensiver der Anlauf, je besser der Schwung. Um Vergeben zu können, braucht es Abstand, Anlauf und Intensität beim Beten. So kann Gott Wunder tun und Herzen zueinander wenden, dass neues Miteinander entsteht.

Wie die Bundesbahn für ihr Schienennetz ständig Sorge trägt, so dürfen wir das Miteinander nicht vernachlässigen. Wenn wir eine Störung bemerken, ist es vielleicht heute dran, sie im Gebet vor Gott zu bringen und ihn zu bitten, dass er hilft, die Gleise zu reparieren. So kann seine Liebe weiterfließen von dieser Gemeinde zu den Menschen in unserer Umgebung.

Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

Cornelia Trick


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