Er wartet auf dich
Gottesdienst mit Taufe am 14.12.2003

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
stellen Sie sich vor, Sie sind jetzt im Skiurlaub. Sie sind die einzige Person weit und breit, die heute auf die Piste geht. Die Sonne scheint strahlend, keine Wolke zeigt sich am Himmel, der Schnee liegt unberührt vor Ihnen. Sie sind der Erste oder die Erste, der seine, die ihre Spuren in die Landschaft ziehen darf. Sie legen fest, wie Ihre Route aussehen wird. Vielleicht sind Sie bange - schließlich könnten Sie in unwegsames Gelände kommen. Vielleicht wollen Sie am liebsten warten, bis andere vor Ihnen den Hang ausprobiert haben. Aber schließlich siegt Ihre Entdeckerfreude und Sie stürzen sich in den Schnee.

Eine Skifahrt im Tiefschnee, Ski fahrenmitten in unberührter Landschaft, ist wie ein ganzes Leben. Wir starten mit unserer Geburt ins Leben und niemand hat vorher die Piste für uns ausgewalzt. Sicher, es gibt Orientierungsstangen, die hier und da aus dem Tiefschnee heraus ragen. Sie markieren Eckpunkte, die wir nicht übersehen sollten. Aber wie unsere Tour durch das Leben sich entwickeln wird, ist nirgends festgelegt und vorprogrammiert. Wir entscheiden und sind verantwortlich für die Route. 

Wenn wir heute ein Kind in unserer Mitte taufen, dann setzen wir es bewusst dem Segen und der Fürsorge Gottes aus. Wir bitten Gott, dass er die Skitour dieses Kindes deutlich markiert, es nicht in unwegsamem Gelände allein lässt und es sicher ans Ziel bringt. Wir spüren dabei eine ungeheure Entlastung. Gott hat den Überblick. Er kennt die Beschaffenheit des Geländes. Er ist mit jeder Unebenheit und jedem Steilhang vertraut. Und er wartet am Ziel, kommt sogar vom Ziel her entgegen. Er sagt zu, dass dieses Kind seine Tour durch den Neuschnee mit ihm machen kann.
Einen solchen Zuspruch Gottes finden wir beim Propheten Jesaja:

Jesaja 54,10

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

Ursprünglich war dieses Wort Gottes an das Volk Israel gerichtet. Seit der Zerstörung der Hauptstadt Jerusalem 587 vor Christus waren die Juden viele Jahre später immer noch im Exil in Babylon. Sie hatten keine Hoffnung mehr, die Heimat schien nach langen Jahren des Wartens endgültig verloren, eine Rettung aus dieser trostlosen Lage war nicht in Sicht. Man war sich sicher, dass Gott das Volk, das ihm nicht gehorcht hatte, längst abgeschrieben hatte.

Doch der Prophet wollte seine Landsleute aufrütteln. Er war überzeugt, dass Gottes Wort nach wie vor galt. Denn der hatte sich verpflichtet, dem Volk eine neue Zukunft zu geben, wenn es neu Vertrauen zu ihm fasste. Für Jesaja war klar, Gott wollte die Berge, die jetzt eine Rückkehr in die Heimat unmöglich machten, aus dem Weg räumen. Er unternahm alles, um mit Israel wieder in eine enge Gemeinschaft zurück zu finden.

So ist das ermutigende Wort Gottes auch ein Hinweis auf seine Haltung unserem Leben gegenüber. Es wird während unserer Abfahrt durch den Neuschnee immer wieder Situationen geben, in denen der weitere Weg ungewiss ist. Wir werden an Steilkanten kommen, vor unbezwingbaren Bergen stehen. Die Markierungsstangen können im Nebel unsichtbar sein. Viel kann dazwischen kommen, bis wir das Ziel erreicht haben. Aber Gott wird uns dabei nicht allein lassen. Er wird Gnade und Frieden anbieten. Sein Name ist Erbarmen, das gilt uns.

Wie Gnade, Friede und Erbarmen konkret aussehen, zeigt Jesus uns anhand einer Beispielgeschichte von einem Vater und seinen beiden Söhnen (Lukas 15,11-32).

Der Vater war Bauer und hatte Landbesitz, auf dem seine beiden Söhne arbeiteten. Dem Jüngeren wurde es bei der Familie zu eng. Er ließ sich sein Erbe auszahlen und wollte sein Leben auf eigene Faust gestalten. Von keinem Streit ist die Rede und kein traumatisches Erlebnis wird als Grund für den Aufbruch genannt. Der Jüngere machte sich also auf, er brach alle Brücken hinter sich ab, Vater und Bruder blieben zurück. Jesus erzählt zunächst, wie es mit dem Jüngeren weiter ging. Er genoss das Leben, gab sein Geld mit vollen Händen aus und sorgte sich nicht um die Zukunft. Das wurde ihm bald zum Verhängnis, als eine große Wirtschaftskrise über das Land herein brach und er von heute auf morgen völlig mittellos dastand. Seine Freunde zogen sich bald zurück, denn aus dem Partylöwen war ein Habenichts geworden, mit dem man sich nicht mehr amüsieren konnte. Eine Arbeitsstelle weit unter seinem Niveau war schließlich seine letzte Rettung. Doch an diesem tiefen Punkt nahe am endgültigen Absturz ging er in sich und erinnerte sich an sein Elternhaus. Er beschloss zum Vater zurück zu gehen und sich ihm als Hilfsarbeiter zur Verfügung zu stellen. 

Soweit die Geschichte des Jüngeren. Es ist eine Geschichte, die wir vielleicht selbst erlebt haben. Man möchte neue, eigene Wege gehen, sich selbst beweisen, einmal ohne Verpflichtungen darauf los leben. Lange geht das gut, doch oft kommt ein unüberwindbarer Berg, ein Talschluss, der kein Weiterkommen erlaubt. Das Geld ist zu Ende, die Liebesbeziehung kaputt, die Gesundheit ruiniert, die Familie zerstritten. Wie soll es weiter gehen? Haben wir in diesen Momenten der Besinnung den Gedanken, zu Gott zu rufen, ihn zu bitten, die Berge eben zu machen und die Hügel aus dem Weg zu räumen? Der junge Mann erinnerte sich an seinen Vater. Jesus ermutigt uns, es genauso zu tun. Vor der undurchdringlichen Wand oder am Rand des Steilhangs sitzen zu bleiben, macht keinen Sinn. Aber wir können mit Gott reden. Gott hat sein Ja zu uns gesprochen und er steht dazu, auch wenn wir lange nichts von uns haben hören lassen.

Jesus erzählt auch von dem älteren Bruder. Auf ihm lastete die ganze Verantwortung. Er blieb bei seinem Vater, tat, was man von ihm erwartete und hatte sicher immer wieder eine große Wut auf seinen kleinen Bruder, der sich einfach so aus dem Staub gemacht hatte. Vielleicht hatte der Ältere auch Momente, in denen er auch am liebsten auf und davon wäre. Aber er blieb beim Vater, er hatte das Verantwortungsgefühl des Erstgeborenen, er wollte nicht schuldig werden, auch wenn die Lebensfreude dabei auf der Strecke blieb und die Tage sich ohne besondere Höhepunkte dahin schleppten. Er kam nicht in eine solche ausweglose Situation wie der jüngere Bruder. Seine Existenz war gesichert. Aber ob er glücklich war? Ob er mit seinem Leben zufrieden und im Einklang war?

Vielleicht finden Sie sich eher in dem älteren Bruder wieder. Sie sind pflichtbewusst und korrekt, Sie kümmern sich um Ihre Familie, Sie wollen es allen Recht machen. Aber es beschleichen Sie hin und wieder Gedanken, alles noch mal ganz anders zu machen. Sie sind nicht wirklich mit Ihrem Leben einverstanden. Ein bisschen kommen Sie sich vor wie im Gefängnis der Erwartungen anderer. Wer wird Ihre Gefängnistür öffnen und das Licht herein lassen? Und werden Sie dann auch ins Licht hinaus treten und die Freiheit ergreifen?

Über ein drittes Kind des Landwirts erzählte Jesus nichts. Aber gerade dieses dritte Kind scheint mir in unserer Zeit besonders häufig vorzukommen. Nehmen wir an, es gab in dieser Familie noch eine Schwester. Sie lebte ein paar Kilometer vom väterlichen Hof entfernt. Sie hatte sich ihre eigene Existenz aufgebaut und lebte ihr eigenes Leben. Ab und zu schaute sie beim Vater vorbei. Besonders zur Erntezeit ließ sie sich oft sehen, stellte ihre leeren Körbe ab und nahm am Abend die gefüllten Körbe wieder mit nach Hause. Sie nutzte das Elternhaus als Tankstelle. War ihr emotionaler Tank gefüllt, rauschte sie wieder ab. Sobald der Vater sie in ein Gespräch verwickeln konnte, ergriff sie die Flucht, nein, sie wollte sich nicht in ihr Leben schauen lassen.

Sind Sie vielleicht dieser Tochter sehr ähnlich? Sie wissen um Gott, ja, Sie würden bei Meinungsumfragen ohne Zögern ankreuzen: "Ich glaube an Gott". Sie gehen in die Kirche, wenn Sie das Bedürfnis dazu haben. Vor allem, wenn Ihr emotionaler Tank leer ist, suchen Sie sie auf, stellen Ihre leeren Körbe vor den Altar und nehmen die vollen mit nach Hause. Aber Sie wahren Distanz. Zu nahe soll Gott Ihnen nicht kommen. Er könnte sich einmischen, manches nicht so gut finden, Sie zu einem anderen Verhalten bewegen wollen. Das ist unerwünscht und deshalb bestimmen Sie, wann und wie Sie Ihre Gottesbeziehung pflegen.

Welchen Weg wird das Kind wählen, das heute getauft wird? Wird es sich von Gott entfernen und das Leben nach eigenen Vorstellungen und Maßstäben gestalten? Wird es in Gottes Nähe bleiben und auf ihn hören? Wird es den emanzipierten Mittelweg gehen und die Gottesbegegnungen wohl dosiert pflegen?

Und welchen Weg gehen wir? Sind wir dem Kind gute Wegbegleiter, die es anleiten, die markierten Pisten nicht zu verlassen? Sind wir glückliche Menschen, die mit sich im Einklang leben und dem Kind darin Vorbilder sein können?
Unabhängig davon, wie wir unsere Wege wählen und in welches Gelände wir dabei geraten, wird Gott uns entgegenkommen, so sagt er es uns.

Gott und der ältere Sohn

Scheinbar hatte der ältere Sohn ja ein wunderbares Verhältnis zum Vater. Er war immer in seiner Nähe, arbeitete mit ihm gemeinsam und gehorchte ihm. Doch dadurch hatte er noch nichts gewonnen. Als der jüngere Bruder wieder aufgenommen wurde, stieg in ihm Neid auf. Er hatte sich all die Jahre abgestrampelt für den Vater, wo blieb seine besondere Anerkennung?

Es könnte uns auch so gehen. Wir sind treu in unserem Glauben. Wir lesen die Bibel und gehen in die Kirche. Wir lieben Gott. Aber vor lauter Diensten, die wir für Gott tun, merken wir nicht, dass er zuerst etwas für uns tun will. Er hat uns lieb. Er lädt uns ein, diese Liebe aufzunehmen und uns von ihr erfüllen zu lassen. Seine Gegenwart im Heiligen Geist ist zuerst Kraftquelle und Wohltat, dann erst Dienstauftrag. Wir werden missmutig und verbissen, wenn wir nicht immer wieder stoppen und Gott die Chance geben, etwas für uns zu tun. Vielleicht will er ja längst ein Fest mit uns feiern. Wir aber arbeiten uns von Station zu Station durch und sind blind für den üppig gedeckten Tisch. Wir sehen schon gar nicht mehr die Festfreude, sondern den Abwasch, der anschließend auf uns wartet. Wo sind die Orte, an denen Gott auf uns wartet und uns den Tisch deckt? Gibt es heute schon eine Gelegenheit oder in den nächsten Tagen? Dann sollten wir sie ergreifen, um wieder froh zu werden in der Nähe unseres Herrn.

Gott und die Tochter

Was hätte wohl Jesus über die Tochter gesagt, die sich in vornehmem Abstand vom Vater hielt? Ich kann mir vorstellen, dass es in Jesu Sinn wäre, diese Tochter zum großen Familienfest einzuladen. Würde sie kommen, könnte sie erfahren, warum ihr kleiner Bruder wiedergekommen ist. Sie würde diese neue Liebe ihres Bruders spüren, auch überrascht sein, als ihr älterer Bruder vom Feld kommt und den Jüngeren liebevoll umarmt und dabei weint. Natürlich würde sie das nicht gleich verstehen, aber die Brüder würden es ihr erzählen und sie selbst im Tiefsten damit berühren. Ihre Haltung dem Vater gegenüber könnte ins Schwanken geraten. Wenn er sie auch so liebte wie den kleinen Bruder, der alles Geld verprasst hatte, dann sollte sie ihn besser kennen lernen und mehr Zeit mit diesem besonderen Mann verbringen. Dann hätte er auch für sie diese Liebe, die sie so oft vergeblich bei anderen suchte.

Und übertragen auf unsere Situation lädt Jesus die distanzierten Söhne und Töchter ein, ihm eine zweite Chance zu geben. Ein Fest, wenn ein Nahestehender zum Glauben an Jesus Christus kommt, ist eine gute Gelegenheit, etwas über Gottes Liebe zu erfahren und von ihr angerührt zu werden. Denn Gottes Liebe verändert von innen. Er möchte uns befreien vom krampfhaften Versuch, alles unter Kontrolle zu halten. Er möchte uns Geborgenheit schenken, wenn uns die Sorgen vor der Zukunft die Ruhe rauben. Er möchte uns befähigen, sein Erbarmen, seine Gnade und seinen Frieden in unsere Umgebung weiter zu tragen.

Gott und der jüngere Sohn

Der Mann hatte ein gutes Fundament im Elternhaus mitbekommen. Denn er erinnerte sich in der Not an seinen Vater und wagte die Rückkehr. Wir können nicht genug tun, um unseren Kindern dieses sichere Fundament mitzugeben als Eltern, als Taufzeugen, als Gemeinde. Kein Weg ist so verbaut, als dass Gott nicht noch eine Chance eröffnen könnte. Kein Weg ist zu weit, als dass es nicht noch zur Umkehr reichen würde. Wenn diese Zusagen schon in den ersten Kinderjahren fest verankert werden, sind sie ein kostbarer Schatz, der niemals im Leben verloren geht. Es ist eine verantwortliche Aufgabe, dieses Fundament zu gestalten und Gottes Liebe glaubhaft vorzuleben. Wir sollten auch als Gemeinde die Kinder unter diesem Aspekt anleiten, dass sie in dieser Lebensphase eine Art Lawinensuchgerät mitbekommen, mit dem sie jederzeit in welcher Lage auch immer den Kontakt zu Gott wieder aufnehmen können.

Welchen Weg sind wir bis heute gegangen? Diese Frage stellt sich uns, wenn wir von Gottes Zusage und seinem Entgegenkommen hören. Aber viel wichtiger ist, welchen Weg wir in Zukunft einschlagen. Da möge uns Jesus an die Hand nehmen und uns zum Vater führen.

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

Cornelia Trick


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