Den Nächsten lieben
Gottesdienst am 21.01.2007

Lukas 10,25-37

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte Jesus und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst" (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). Jesus aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: 
Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
der Barmherzige Samariter ist eine der bekanntesten Jesus-Geschichten. Was kann diese Geschichte noch Neues bringen? Wie kann sie uns als Gemeinde helfen, die Horizonte zu öffnen und unsere Aufträge besser zu erkennen? Wie hören wir aus Altbekanntem Neues heraus?

Jesus und der Schriftgelehrte

Zunächst überrascht das Gleichnis mit seinem schwergewichtigen Rahmen. Da wird nicht einfach erzählt, dass Jesus von X nach Y kam und den Leuten eine Beispielgeschichte erzählte, sondern Jesus wird von einem Gesetzeskundigen in eine Falle gelockt. Der Schriftgelehrte wollte keine neuen Erkenntnisse hören, sondern seine Vorurteile bestätigt bekommen. Seine Frage "Wie kann ich ewiges Leben bekommen?" hatten damals auch andere Jesus gestellt. Ein reicher junger Mann wollte von Jesus auch wissen, wie er in die Ewigkeit kommen konnte. Jesus legte seinen Finger auf die Schwachstelle des jungen Mannes, seine Abhängigkeit vom Geld. Der Schriftgelehrte stellte die gleiche Frage und bekam doch eine andere Antwort. Auch bei ihm legte Jesus den Finger auf die Schwachstelle. Die Schwachstelle des Gesetzeskundigen war offenkundig seine mangelnde Liebe zu seinen Mitmenschen.

Das Gleichnis

Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter ist mit kräftigen Farben gemalt, die die Kontraste besonders deutlich herausstreichen. Es wird nicht von Kaufleuten, Bauern oder Handwerkern gesprochen, die auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho waren, sondern von Priester und Levit, deren Beruf und Abstammung sie in besondere Nähe Gottes stellten. Sie wussten, was Gott von ihnen erwartete, sie kannten die Gebote, sie waren Fachleute für das von Gott gewollte Handeln. Doch sie versagten angesichts der gestellten Aufgabe. Sie sahen den Überfallenen, aber nur mit trüben Augen. Sie ließen sich von dem übel Zugerichteten nicht stoppen, sondern gingen vorüber.

Im krassen Gegensatz zu ihnen tauchte danach ein Samariter auf, der keine Ausbildung in Erste-Hilfe hatte, wie das die Arbeiter-Samariter-Bund-Mitglieder heute haben, sondern der als Feind der Juden galt, einer, der das Gesetz nicht so hielt, wie es nötig war und nicht in Jerusalem opferte. Der ließ sich stoppen von dem Hilflosen und tat genau das Richtige und Naheliegende. Das Gleichnis lehrt: 

  • Gottes Gebot erfüllt einer, der nicht dazu gehört. Die wissen, was Gott von ihnen will, versagen. Wissen ist nicht Tun des Richtigen.
  • Zwei von drei Leuten gehen vorüber. Mit 66% Wahrscheinlichkeit bin ich eine Vorübergehende, oder in einem von drei Fällen helfe ich. Eine üble Statistik.
  • Jesus erzählte dieses Gleichnis nicht, um den Schriftgelehrten fertig zu machen, sondern um ihn zu retten. Kernsatz ist: "Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn".


Wer ist der Nächste für den Überfallenen?

Nachdem Jesus das Gleichnis erzählt hatte, spitzte er es für den Schriftgelehrten zu: Wer ist der Nächste für den Überfallenen? Er zwang den Kontrahenten zum Perspektivenwechsel. Er konnte nicht mehr Zuschauer bleiben, der sich von Jesus zeigen ließ, wer als Nächster denn so in Frage käme, sondern er musste selbst in diesem Gleichnis seine Position einnehmen. Er wurde aufgefordert, sich in den Straßenstaub zu legen und am eigenen Leib zu erfahren, was es bedeutete, achtlos liegen gelassen zu werden oder geholfen zu bekommen. Die Antwort auf die Frage Jesu fiel leicht. Natürlich war der Samariter der Nächste für den Überfallenen. 

Die erste Frage, die Jesus hier stellte, ist: Wer ist Nächster für mich? Wer erbarmt sich über mich? Wie er dem Schriftgelehrten einen Platz im Straßenstaub zuwies, so auch mir. Ich bin der Halbtote im Gleichnis, eine durch Schuld vom Tode Gezeichnete, die keine Ewigkeit zu erwarten hätte, wenn sich nicht Jesus über mich erbarmt hätte. Ich bin die, an der andere achtlos vorübergehen, weil sie mir nicht helfen können oder helfen wollen. Und ich sehe die Schuld durch dieses Gleichnis übergroß:

Bin ich nicht x-mal an anderen vorübergegangen, ja ist mein Leben nicht ein ständiges Vorüber-Gehen zwischen Jerusalem und Jericho? Da sind die ungetätigten Telefonate, die ungeschriebenen Briefe, die versagten Gelegenheiten, die ungehaltenen Versprechen und vergessenen guten Vorsätze. Da sehe ich verpasste Chancen und das Zu-Spät über vielen Situationen. Da wird mir bewusst, dass ich mich nicht selbst retten kann, mich nicht selbst aus dem Staub meiner Schuld wälzen kann.

Und da sehe ich, wie Jesus auf mich zukommt, mich packt und auf seinen Schultern trägt, meine Wunden versorgt und mich heilt. Jesus erbarmt sich über mich, er ist mein Nächster. 

Nächstenliebe beginnt mit der Erfahrung, dass Jesus mein Nächster ist und mich annimmt. Weil er die Schuld von mir nimmt, die mich umgebracht hätte, kann ich mich selbst annehmen, mich lieben, Ja zu mir sagen. Ich kann aus dem Straßenstaub aufstehen und meine Augen öffnen, die nun nicht länger blind sind und "vorübergehen lassen", sondern die sehen und erkennen, was Not tut.

Wer ist mein Nächster als Gerettete oder Geretteter?

Das Gleichnis ist leider keine Fortsetzungsgeschichte. Doch wir können uns die Fortsetzung leicht vorstellen. Der wieder Genesene verlässt die Pension, er kehrt in seinen Heimatort zurück. Er erzählt den Leuten von seiner Erfahrung, von dem Samariter, dem er diese Tat nie zugetraut hätte und der sein Lebensretter geworden ist. Er geht jetzt oft auf dem Weg zwischen Jerusalem und Jericho, und immer suchen seine Augen die Wegränder ab. Liegt da wieder jemand? Und kann er auch helfen? Vielleicht gründet er eine Rot-Kreuz-Station, Krankenwagenvielleicht auch eine Polizeiwache, um die Übeltäter zu verhaften. Doch egal, wie viele am Ende bei den Hilfsaktionen mitmachen, er selbst wird die schärfsten Retteraugen haben und die Umgebung am gründlichsten nach Verletzten absuchen. Wer Jesus als den erfahren hat, der ihn wirklich aus dem Straßenstaub herausgehoben hat, wird seine Nächsten wahrnehmen. Priester und Levit gingen vorüber, weil sie Jesus nicht erlebt hatten. Sie waren nicht gerettet worden, sie hatten nicht erkannt, dass sie dem Tod geweiht waren. 

Und wir Christen? Sind wir von Jesus Gerettete, haben wir das wirklich erlebt, oder ist Christsein für uns gleichbedeutend mit Kirchensteuer zahlen oder Mitglied in einer Institution sein, die die Lebensabschnitte feierlich umrahmt? Und wenn wir es erlebt haben, sehen wir dann mit Jesu Augen die Menschen, die auf unserem Weg liegen? Wir müssen sie ja offensichtlich nicht suchen, sie liegen einfach da, wir können sie nicht übersehen.

Jesus sagt uns, dass wir unsere Nächsten wahrnehmen und uns von ihnen stoppen lassen, wenn wir mit ihm leben. Doch schadet es nicht, eine Sehschule zu absolvieren.

  • Wir können uns einen Tag dieser Woche zur Aufgabe machen, mit Jesus auf dem Weg zu sein und unsere Mitmenschen wahrzunehmen: Wer sehnt sich nach Hilfe? Welcher einen Person kann ich heute Nächste werden? Was braucht diese Person, die mir auf dem Weg durch den Tag begegnet?
  • Nächste Woche können wir die nächste Lektion der Sehschule anpacken. Wir gehen nicht mehr nur die vertrauten Wege durch den Alltag, die wir schon auswendig kennen mitsamt den Leuten, die uns da immer begegnen, sondern gehen auf anderen Straßen. Wir schauen, wer uns da begegnet. Vielleicht ist es eine diakonische Aufgabe, die unser regelmäßiges Engagement braucht. Vielleicht ist es ein Mensch, der unsere verlässliche Fürsorge braucht. Vielleicht ist es eine soziale Aufgabe, um Verletzten zu helfen und Räubernester auszuheben.
  • Bei den Erfahrungen auf unseren Wegen werden wir entdecken, dass die Gaben und Fähigkeiten, die Gott uns geschenkt hat, genau zu den Aufgaben passen, die am Weg auf uns warten. Wer PCs heilen kann, wird Menschen treffen, die das brauchen. Wer Arzt ist, wird nicht die kaputten Autos sehen, sondern Menschen begegnen, die seinen Rat brauchen.
Maria und Martha (Lukas 10,38-42)
Nach dem Gespräch mit dem Schriftgelehrten kehrt Jesus bei den Schwestern Martha und Maria ein. Die beiden Schwestern verhalten sich gegenüber Jesus völlig unterschiedlich. Martha dient Jesus. Doch sie tut es mit einem bitteren Zug um den Mund. Sie fühlt sich von ihrer Schwester allein gelassen. Sie will Jesus bedienen, aber die Liebe ist ihr abhanden gekommen. Maria setzt sich zu Jesu Füßen. Sie lässt sich von ihm beschenken, aus dem Staub des Alltags heben, sie lässt Jesus ihren Nächsten sein. Jesus verbietet ihr nicht, später ihrer Liebe zu Jesus mit einem leckeren Essen Ausdruck zu verleihen. Doch erst will er ihr Nächster sein, bevor sie in ihm den sehen soll, der ihrer Zuwendung bedarf. Martha muss das erst lernen. Sie darf sich mit Jesus Zeit nehmen, sie darf sich von ihm lieben lassen, dass sie sich selbst annehmen kann. Erst dann wird sie fähig, sich ihren Nächsten zuzuwenden ohne Groll und Bitterkeit.
  • Wie können wir den Nächsten, die Nächste lieben als Gemeinde?
  • Für wen schlägt unser Herz, wen sehen wir, der unsere Zuwendung braucht?
  • Wer ist Nächster/Nächste in unserer Gruppe, unserem Hauskreis?
  • 1 Person, die besondere Zuwendung braucht
  • Wer ist Nächster/Nächste vor unserer Kirchentür?
  • Welche Anliegen Einzelner oder von Gruppen liegen "am Weg"?
  • Womit können wir helfen?
  • Meine Gaben und Fähigkeiten?
Jesus sagte zum Schriftgelehrten: So geh hin und tu desgleichen! Jesus sagt uns zu allererst: "Komm her zu mir, du Mühselige und du Beladener, ich will dich erquicken!"
Cornelia Trick


Home


Verantwortlich Dr. Ulrich Trick, Email: ulrich@trick-online.de
Internet-Adresse: http://www.predigt-online.de/prewo/prewo_den_naechsten_lieben.htm