Abgründe im Leben
Gottesdienst am 04.03.2001

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
immer wieder fange ich an, ein Tagebuch zu schreiben. Ich versuche, die glücklichsten Momente festzuhalten, notiere Begegnungen, die den Horizont erweitert haben, nenne Traurigkeit und Ängste, halte Gebetserhörungen fest und schreibe kurz auf, wofür ich dankbar bin. Sehr lange halte ich das Tagebuch- Schreiben nie durch, dann fesselt mich die Gegenwart und Zukunft mehr und leider entstehen so große Lücken im Rückblick. AbgrundDoch immer wieder stoße ich im Durchblättern von vergangenen Zeiten auf Tage, wo sich mir der Boden unter den Füßen entzogen hat. Und ich bleibe an Sätzen hängen, die als Gebete formuliert sind: Herr, wo bist du? Siehst du nicht meine Not? Heute - im Rückblick - hat sich die Not aufgelöst. Staunend kann ich erkennen, wie Gott geholfen hat - oft anders als erwartet, aber er war da.

Stellen Sie sich vor, in 40 Jahren bekommt ein Verwandter von Ihnen Ihr Tagebuch des Jahres 2001 in die Hände. Der Verwandte ist noch zu jung, um sich an das Jahr 2001 zu erinnern. Seine Lebenssituation ist eine andere als Ihre heute. Aber er ist ergriffen von Ihren Hilfeschreien, die Sie im Tagebuch festgehalten haben. Er empfindet eine große Nähe zu Ihnen, weil er diesen Schrei aus der Not aus seinem Leben kennt. Die 40 Jahre Unterschied schmelzen zusammen, fast ist es, als wenn Ihr Verwandter sich mit Ihnen von Angesicht zu Angesicht unterhalten würde.

Wir erfahren in der Bibel auch von Tagebuchaufzeichnungen glaubender Menschen. Sie lebten in anderen gesellschaftlichen, politischen und sicher auch persönlichen Umgebungen. Ihre Lebensumstände sind oft nur mit kurzen Pinselstrichen angedeutet. Doch diese Aufzeichnungen rühren an, sie sprechen etwas Gemeinsames an, sie betreffen uns selbst, ganz persönlich.

Die vielleicht berühmtesten Aufzeichnungen in der Bibel sind die Bekenntnisse von Jeremia, ca. 600 v. Chr. abgefasst. Der Prophet Jeremia beklagt seine Lage, schreit seine Zweifel und Anfechtungen heraus, verflucht sogar den Tag seiner Geburt. Jeremia steht mitten im Spannungsfeld. Er spürt Angriffe von seinen Freunden, die zu seinen Feinden werden, er fühlt sich von Gott verraten, er erahnt eine große Katastrophe, die niemand in seinem Land verschont, und spürt die Gefahr, in der er selbst schwebt. Eine Konfession möchte ich zu uns sprechen lassen und darauf hören, was sie uns zu sagen hat.

Jeremia 20,7-11a

HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; "Frevel und Gewalt!" muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich.
Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. 
Denn ich höre, wie viele heimlich reden:  "Schrecken ist um und um!" "Verklagt ihn!" "Wir wollen ihn verklagen!" Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: "Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen."
Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.

Jeremia lebte in einer bewegten Zeit. Am Anfang seiner Prophetenlaufbahn stand eine soziale und religiöse Erneuerung, die von führenden Kreisen vorangetrieben wurde. Der Gott Israels sollte wieder neu in das Bewusstsein der Menschen kommen, die fremden Götter, die die assyrische Besatzungsmacht im Land verbreitet hatte, wurden für nichtig erklärt. Die Verbindlichkeit des Glaubens an Gott wurde bis hin zum materiellen Lastenausgleich zwischen Arm und Reich eingeschärft und vollzogen. Doch mit dem Tod König Josias erstarb auch die Reformbewegung. Unter seinem Sohn Jojakim begannen Verteilkämpfe. Die einflussreichen Leute hatten weder Mut noch Kraft, sich gegen den König zu stellen, sie wollten ihre Privilegien retten.

Wir können uns wahrscheinlich kaum vorstellen, wie das Volk zerrissen, orientierungslos, ausgebeutet und führungslos lebte. Nach dem hoffnungsvollen Aufbruch folgte für die einfache Bevölkerung eine Zeit der Verzweiflung und für die Führenden ein Jagen nach den Vorteilen, die noch zu retten waren. So geriet der Prophet Jeremia, der nach wie vor an den Reformen zur Zeit Josias festhielt, in die Schusslinie. Er rief auf zur Umkehr. Er führte den Priestern und Oberen vor Augen, wie ihr Tempelkult nur äußere Fassade war, aber nicht zum wirklichen Gehorsam gegenüber Gott führte. 

So ist uns eine Episode berichtet, wie Jeremia die Einflussreichen Jerusalems ins Hinnom-Tal führte, einer heidnischen Opferstätte. Dort zerbrach er vor ihren Augen einen Krug und kündete das Gericht Gottes über die Einflussreichen und das Land an. Doch trotz dieser kernigen Worte kehrte keiner um. Auch schickte Gott kein Zeichen vom Himmel, um Jeremias Drohung zu untermauern. Im Gegenteil, der Oberpriester Paschhur schloss Jeremia für eine Nacht ins Gefängnis. Jeremia fühlte sich vollkommen verlassen. Seine ehemaligen Freunde - früher Anhänger der Reformpartei - lästerten über ihn. Gott schien nicht mit ihm zu sein. Das künftige Gericht über Stadt und Land stand wie eine Gewitterwolke am Himmel und seine eigene Situation war mehr als gefährlich.

Können wir aus seinen Tagebucheinträgen etwas erkennen, das uns hier und heute berührt? Was würde Jeremia schreiben, wenn er hier bei uns leben würde? Ich kann mir vorstellen, er würde Ähnliches anprangern wie damals in Jerusalem. Gott lässt sich nicht vereinnahmen von unseren Machtgelüsten und Vorstellungen. Die Oberen damals dachten, Gott wird es schon richten, dass alles so bleibt wie es ist. Er ist doch automatisch bei den Oberpriestern. Und ein bisschen stehen wir ja auch immer in der Gefahr, so zu denken und zu handeln. Gott wird uns schon zur Seite stehen, wir sind doch seine Kinder. Wir denken uns unsere Prioritäten aus, versuchen, nirgends anzuecken und überall dabei zu sein und dann spannen wir Gott noch vor den Karren und beten: "Herr, lass unsere Vorhaben gelingen." Und ehe Gott uns antworten kann und zum Beispiel mehr Rücksichtnahme auf unsere familiären Belange anmahnen kann, sagen wir schon Amen und sind aus der Stillen Zeit mit Gott weggelaufen.

Jeremia würde uns auch sehr deutlich sagen, dass Nachfolge unseres Herrn nichts zu tun hat mit einer gemäßigten Frömmigkeit, die an den Rändern des Terminkalenders ein Schattendasein führt. So wie Jeremia damals für das vorbehaltlose Vertrauen und den Gehorsam gegenüber Gott eintrat, so tut es auch uns Not, immer wieder an Gottes Anspruch auf unser Leben erinnert zu werden. Zu ihm zu gehören ist eine Lebensgemeinschaft, die sich erst in der Nähe und Kontinuität entfaltet. Dann können wir auch die Segnungen aus Gottes Hand nehmen, die er uns schenken will.

Vielleicht würde Jeremia auch auf die drohenden Gewitterwolken über unserer Welt deuten. Eine Verkäuferin sagte mir dieser Tage, sie findet, das Fleisch wird viel zu gut erforscht. Es ist besser, man weiß das alles nicht so genau. So geht es mir auch im Hinblick auf andere Gewitterwolken am Horizont. Am liebsten wüsste ich nichts davon und könnte so richtig glücklich in meinem Dorf leben. Aber wir wissen nun mal davon und haben uns dem zu stellen. Was will Gott uns mit den Gerichtswolken sagen? Macht immer weiter so? Oder will er uns nicht vielmehr dazu auffordern, umzukehren und nach seinen Lebensordnungen zu leben, weil wir sonst alle an uns selbst und unseren Ansprüchen kaputt gehen?

Es gibt Lebenssituationen, da kann es uns genauso gehen wie Jeremia. Da kommen wir uns auch vor wie einsame Rufer in der Wüste. Wir wollen in unserer Familie Gottes Willen befolgen und stoßen an Grenzen, provozieren Streit und Missverständnisse, fühlen uns von Gott allein gelassen. Wir beten um Gottes Eingreifen in einer ganz bestimmten Situation und nichts passiert. Wir wollen vor drohendem Unheil bewahren und werden nur ausgelacht. Wir fühlen uns von Gott mit einer Aufgabe betraut, aber keiner will und braucht das scheinbar. In Stunden, wo wir uns Jeremia so nahe fühlen, kann uns sein Bekenntnis trösten. Ja, wir können es Wort für Wort nachsprechen und zu unserem eigenen Bekenntnis werden lassen. 

  • Gott hat mich überredet – ich habe mich überreden lassen, es ist keine Ausflucht mehr möglich.
  • Gott hat gewonnen, als ich weglaufen wollte, er lässt mich nicht los aus seiner Hand.
  • Ich wollte Gottes Auftrag nicht ausführen – der Auftrag brannte in mir wie Feuer, ich musste ihm nachkommen.
  • Schließlich: Aber der Herr ist mir ein starker Held – ich darf durch das Dunkel hindurch eine neue Glaubenserfahrung machen, ich darf heute Jesus begegnen. Er lässt mich nicht los, er lässt nicht locker, er geht mir nach, er ist stark gerade in meiner Schwachheit und Hoffnungslosigkeit.
Gott hat einen Weg zu uns Menschen gefunden, nachdem seine Umkehrrufe durch Jeremia und andere Propheten ungehört verklangen. Er hat Jesus, seinen Sohn, bevollmächtigt, uns mit Gottes Liebe zu Gott einzuladen. Die Oberen konnten Jesus töten, aber sie konnten ihn nicht zu Fall bringen. Als Jesus auferstand vom Tod, war klar, Gott steht zu Jesus, er steht zu uns. Jesus ist in den Tiefen der Einsamkeit an unsere Seite getreten und zeigt uns den Weg auch durch Leiden und Widerstand hindurch. 

So wie Jeremia vor seiner Berufung nicht weglaufen konnte, so können wir aus Jesu Berufung auch nicht weglaufen. Er ermutigt uns, seinen Willen zu tun, auch wenn es Konflikte heraufbeschwört. Er gibt uns Kraft zum Gebet und steht dafür, dass wirklich etwas passiert. Er gibt uns Stimme, um vor Unheil zu warnen. Und selbst wenn es eintrifft, so wie damals bei Jeremia, lässt er uns darin nicht los, seine Barmherzigkeit trägt hindurch. 

In dieser existentiellen Begegnung mit Gott werden wir gezeichnet, zugleich verletzt und gesegnet. Das Leiden, das unser Leben mit Jesus Christus oft auch hervorruft, wird Teil unseres Lebens. Wir behalten die Narben und können doch Gott loben, dass er sie hat heilen lassen und dass sie für uns ein Zeugnis seiner Liebe geworden sind.

Was sagt uns Jeremia heute? Jesus gehören wir mit allen Konsequenzen. In Zeiten der Verlassenheit können wir an ihm festhalten wie Jeremia und seine Kraft spüren. Darin werden wir zu einem Zeugnis für Jesus, das er durch uns wirkt, wenn wir uns selbst nicht mehr im Griff haben. Die Erfahrung "Gott ist ein starker Held" machen wir oft gegen allen Augenschein. Gut, wenn wir in unserem Tagebuch hinter den Bekenntnissen unserer Verzweiflung immer wieder diese Erfahrungen festhalten, die uns Kraft geben in der Anfechtung.

Cornelia Trick


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